Kapitel 99


Natürlich habe ich Viscount Boton absichtlich gelobt.“

Wenn jemand, der Teil einer Fraktion ist, angegriffen wird, neigt der Mann dazu, sein Fraktionsmitglied zu decken und zu verteidigen. Aber es ist die boshafte Neigung eines Aristokraten, diesen selben Verbündeten ohne Mitleid zu beißen, wenn er glaubt, dass dieser in den Augen der hochrangigen Adligen besser dran ist als er.

Louison verstand das und hatte daher seinen Scharfsinn eingesetzt: „Dann begann er, wie erwartet, zu tratschen. Ihm zufolge lebt in diesem Herrenhaus niemand außer Viscount Boton.“

Kein anderer?“

Ja. Keine Diener, keine Soldaten … nicht einmal seine Familie ist da. Sieh dir den Bankettsaal an – alle Diener sind Leute des Großen Lords des Ostens. Die Köche anscheinend auch.“

Der Große Lord des Ostens, der mit seinem Prestige angeben wollte, ließ seine Leute für Viscount Boton arbeiten und half bei den Vorbereitungen für das Bankett.

Das ist … wirklich seltsam“, sagte Carlton.

Ganz gleich, welche Katastrophe passiert war – selbst wenn er weggelaufen und dann zurückgekehrt war – es machte keinen Sinn, einen einzelnen Aristokraten in dem Herrenhaus eines Adligen unterzubringen. Zumindest hätte er ein paar Bürger zurückholen sollen, die sich um ihn kümmerten.

Jedenfalls habe ich mich, da die Situation verdächtig war, dazu entschlossen, herumzuschnüffeln“, Louison zögerte, bevor er Carlton am Ärmel packte. „Du wirst mich doch nicht alleine gehen lassen, oder?“

Natürlich gehen wir zusammen.“

Wenn der Söldner Louison alleine gehen ließe, würde man Louison dieses Mal vielleicht an den Wänden des Herrenhauses baumeln sehen. Carlton nickte nachdrücklich.


***


Louison und Carlton gelang es, ungesehen die Terrasse zu verlassen. In Viscount Botons Herrenhauses hielt sich niemand weiteres auf – was mit den Gerüchten des anderen Adligen übereinstimmte.

Das Herrenhaus mit seiner langen Geschichte war aufgrund der Leere seiner Hallen von einer trostlosen Atmosphäre umgeben. Kalte Luft, die durch die dicken Wandteppiche drang, ließ die Haut frösteln. Alles in allem fühlte sich die Umgebung seltsam an, obwohl sie nicht genau sagen konnten, was daran seltsam war.

Ihr Ziel war der Flur, in dem Louison und Viscount Boton sich früher am Tag unterhalten hatten. Da hatte Viscount Boton Louison gefragt, ob ihm an dem Herrenhaus etwas Seltsames aufgefallen sei. Ohne Kontext war das eine so zufällige Frage. War das nicht etwas, was jemand fragen würde, weil er bereits wusste, dass der Ort seltsam war?

Als sie im Flur ankamen und still und leise stehen blieben, hörten sie entfernte dumpfe Schläge.

Normalerweise hätten sie das überhört, in der Annahme, dass es von irgendeinem Tier wie einer Maus stammte, aber Carltons scharfen Sinnen konnte das nicht entgehen.

Ich höre dort drüben etwas – das Geräusch wiederholter Schläge.“

Carlton zeigte auf die Quelle der Geräusche: Viscount Botons Büro. Carlton zog zuerst seinen Dolch und näherte sich vorsichtig dem Büro. Louison folgte ihm auf den Fersen.

In Viscount Botons Büro herrschte Chaos. Es sah aus, als seien Gläubiger gekommen und gegangen. Bücher und Papiere lagen verstreut auf dem Boden. Töpfe und verschiedene Ziergegenstände waren darauf verteilt.

*Bumm– Bumm– Bumm*

Es gab eine weitere Tür im Büro und das wiederholte Geräusch kam von der anderen Seite. Carlton bat Louison zu warten, und näherte sich der Tür.

Louison blieb ruhig stehen und blickte sich im Büro um.

Gibt es sonst noch etwas Merkwürdiges?

Die Porträts an der Wand erregten die Aufmerksamkeit des jungen Herzogs. Die Porträts zeigten die früheren Viscount Botons, geordnet von den entferntesten Vorfahren bis zu den jüngsten. Es war üblich, das Büro mit den Porträts seiner früheren Besitzer zu schmücken. Auch das Herzogtum Anness enthielt viele Porträts, die die Generationen von seinen Vorfahren bis zu Louison selbst umspannten.

Sie sehen alle ähnlich aus.

Vielleicht weil sie von einem gemeinsamen Vorfahren abstammten, sahen sich die Gesichter aller früheren Botons ähnlich. Louison empfand ein Gefühl der Unstimmigkeit. Er überflog die Porträts rasch und blickte zum letzten – wo der heutige Viscount sein sollte.

Die Augen des jungen Herzogs weiteten sich: Wer ist diese Person?

Das Porträt des aktuellen Viscounts, das am Ende des Raumes hing, zeigte eine völlig andere Person als den Mann, den Louison kennengelernt hatte. Porträts unterschieden sich oft von den Gesichtern ihrer Modelle, da viele der Gemälde geschönt waren, aber nie in diesem Ausmaß. Obwohl die dicke, klumpige Schminke des Viscounts Boton den jungen Herzog verwirrte, waren die Gesichtszüge – die Farbe der Augen und die Form des Kinns zum Beispiel – bei genauerem Hinsehen anders. Alles war anders.

Habe ich etwas entdeckt? Louison war so verwirrt, dass er seinen Begleiter herbeirief: „Carlton, … komm her und sieh dir das an.“

*Rumps*

In diesem Moment ertönte aus dem Nebenraum ein lautes Geräusch, als ob etwas Schweres heruntergefallen wäre.

Mein Herzog, das solltest du sehen. Hier ist ein Ghul.“

Was?“

Warum war hier ein Ghul? Louison lief eilig an die Seite des Söldners. Hinter der Tür, von wo aus man die Geräusche hatte hören können, lag ein Ghul auf dem Boden. Er war nach hinten gefallen, zappelte und stöhnte.

Den Gewändern nach zu urteilen, scheint er ein Adliger gewesen zu sein“, sagte Louison.

Ich denke, wir sollten uns sein Gesicht genauer ansehen.“

Bitte sei vorsichtig.“

Carlton hielt mit starrer Miene eine Kerze näher an das Gesicht des Ghuls. Die Verwesung war schon weit fortgeschritten, was ziemlich ekelhaft war, aber der Söldner ertrug es. Glücklicherweise war die Leiche nicht so weit verwest, dass er das Gesicht nicht mehr erkennen konnte.

Es ist dasselbe wie auf dem Porträt“, kommentierte Louison. Das Gesicht des Ghuls stimmte mit dem Gesicht auf dem Gemälde des aktuellen Viscount Botons überein.

Das Porträt?“

Da drüben.“ Louison schloss die Tür, damit der Ghul nicht nach draußen entkommen konnte, und zeigte Carlton das Porträt im Büro. Als jemand mit scharfem Auge erkannte Carlton schnell, dass der Ghul tatsächlich der abgebildete Viscount war.

Wenn dieser Ghul wirklich Viscount Boton ist, dann … Wer zum Teufel ist der Viscount im Bankettsaal?“

Noch wichtiger ist, dass wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass der falsche Viscount uns in dieses Herrenhaus eingeladen hat …“

Warum tut ein Mann, der vorgibt, ein Aristokrat zu sein, so etwas Dreistes? Da musste doch irgendein Plan dahinterstecken.

Die Entstehung eines Ghuls war eindeutig mit den Dämonenanbetern verbunden. Angesichts der Tatsache, dass der wahre Viscount Boton zu einem Ghul geworden war, war es sehr wahrscheinlich, dass ein Dämonenanbeter in seinem Tod verwickelt war. Der falsche Viscount muss über diese Situation Bescheid gewusst haben, daher war es fast sicher, dass er mit den Dämonenanbetern in Verbindung stand.

Louison und Carlton vergaßen, was sie sagen wollten, und starrten sich gegenseitig an. Ihnen lief ein Schauer über den Rücken, angesichts der unheimlichen Natur dieser Situation.

*Ahuuu*

Durch die Gesprächspause hörten sie in der Ferne das Heulen eines Wolfes. Der Ruf war erschreckend und schien ihre Trommelfelle zu kratzen. Carltons Blutdurst stieg instinktiv schlagartig an.

Der Söldner rannte zum Fenster. Das umliegende Gelände und das Anwesen des Viscounts waren dunkel – kein einziges Licht schien. Wenn dort jemand lebte, sollte es zumindest ein kleines Licht geben, aber er konnte nichts sehen. Es herrschte nur tiefe Dunkelheit, als würde er nachts aufs Meer blicken.

Doch dann begann dunkelroter Rauch aufzusteigen, der sich auf das Herrenhaus zubewegte. Er ähnelte halb einer Wolke, halb einem dichten Nebel. Aber seine Geschwindigkeit war so schnell wie der Passatwind. Er bedeckte schnell das Gelände, bevor er das Haus erreichte.

Als das schwache Mondlicht durch den dunkelroten Nebel schien, konnten sie Menschen mittendrin sehen. Aus irgendeinem Grund zappelten sie. Auf den ersten Blick war klar, dass die Bewegungen der Menschen – qualvoll langsam und grotesk ruckend – nicht normal waren.

Das sind doch alles … Ghule, oder?“, fragte Louison.

Das scheint… der Fall zu sein.“

Der Schwarm Ghule näherte sich und verengte seine Belagerungsformation, als sie sich dem Herrenhaus näherten. Ghule hatten keine intellektuellen Fähigkeiten und konnten sich daher nicht systematisch bewegen. Daher standen sie unter der Kontrolle von jemandem.

Genau wie die Ritter des Viscounts neulich ... als sie Louisons Gruppe angegriffen hatten.

Die Dämonenanbeter … Das sind diese Bastarde“, knurrte Carlton.

Dies war eine unbestreitbare Tatsache, die nicht länger ignoriert werden konnte. Viscount Boton, dieses Anwesen, dieses Bankett … Alles war eine Falle, um Louison zu fangen.


***


Die Ritter des Großen Lords des Ostens waren alle auf Nachtpatrouille. Sie hatten wenig Motivation, mit Soldaten von niedrigerem Rang Wache zu halten – schließlich genossen die Adligen einfach ihr Essen und Trinken in der Halle. Es gab kein Gefühl von Krise oder Dringlichkeit, da dies das Heim eines Viscounts war.

Die Soldaten, die in der Nähe des Herrenhauses Wache hielten, unterschieden sich nicht sehr von den Rittern. Einige von ihnen waren sogar eingeschlafen, als sie an ein Fenster lehnten. Die Ritter schlugen ihnen auf den Kopf, um sie aufzuwecken, bevor sie ihre halbherzige Patrouille fortsetzten.

Bitte lass die Zeit schneller vergehen …, dachten sie alle. Ihre einzige Erwartung war es, die Reste des Banketts zu bekommen. In Gedanken versunken schlenderten sie herum, als sie ein seltsames Geräusch hörten.

*Grrrrr– Grrrrrr*

Was ist das?“

Dieses Herrenhaus war schon ziemlich unheimlich auf eine Art, die schwer zu fassen war, aber als sie das seltsame Geräusch hörten, waren ihre Nerven angespannt. Die Ritter wurden starr vor Angst.

H-Herr Ritter. Herr Ritter. Es gibt Ärger.“ Ein Soldat eilte auf einen Ritter zu.

Warum diese ganze Aufregung?“

Leichen… Es kommen Leichen auf uns zu.“

Was? Wovon redest du?“

In diesem Moment – zu unheimlich passender Zeit – war aus der Nähe der Schrei eines Soldaten zu hören. Obwohl der Ritter starr vor Angst war, kam er wieder zu Sinnen. Schließlich war er durch einen strengen Prozess zum Ritter geworden.

Der Ritter rannte in Richtung des Schreis … Und er blieb fassungslos stehen. Auf den ersten Blick sah er Menschen in Bauernkleidung, also hatte er gedacht, die Dorfbewohner strömten zum Herrenhaus. Aber je näher er kam, desto seltsamer wurde es. Ihre Augen waren trüb wie Fische, die vor langer Zeit gefangen worden waren. Ihre Körper waren verfault und rochen nach Verwesung. Wie der Soldat sagte, waren dies wandelnde Leichen.

Was zur Hölle ist das…?

Während sie benommen dastanden, stürmten die Ghule auf den Ritter und den Soldaten zu. Ihre Bewegungen waren schnell, obwohl es sich um tote Körper handelte – zu schnell sogar für einen gewöhnlichen lebenden Bürger.

Aaargghh!“ Der Soldat wurde augenblicklich von den Zähnen des Ghuls zerfetzt. Der Ritter, der um Haaresbreite überlebte, drehte sich ohne zu zögern um und rannte davon.

Das ist keine Angelegenheit, die ich allein regeln kann. Beeil dich … ich muss mich beeilen und es dem Lord sagen …

Der Ritter rannte wie verrückt. Das Bankett war in vollem Gange, daher waren zum Glück alle Adligen an einem Ort versammelt. Während er einen leeren Flur entlang rannte, blickte der Ritter immer wieder aus dem Fenster.

Von oben konnte er den dunkelroten Rauch sehen, der schnell auf das Herrenhaus zukam. Irgendwie kam ihm der Rauch noch unheimlicher vor als die lebenden Leichen. Er konnte überall in der Gegend tote Körper herumkrabbeln sehen.

Die Soldaten versuchten zu reagieren, aber sie waren hilflos. Nicht nur, dass es ein Hinterhalt war, sondern sie waren auch von diesen lebenden Leichen verängstigt und konnten daher ihre vollen Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht einsetzen. In solchen Momenten war die starke Kraft und Autorität eines Anführers erforderlich.

Schneller.

Der Ritter riss mit aller Kraft die Tür zum Bankettsaal auf und schrie: „Euer Gnaden, es ist eine Katastrophe!“

Die Adligen, die ihr Fest genossen, drehten sich mit weit aufgerissenen Augen um. Ein Aristokrat schalt den Mann sogar mit missmutigem Gesichtsausdruck und fragte, was dieser ganze Trubel zu bedeuten habe.

Der Ritter konnte jedoch nichts sagen – der dunkelrote Nebel, der in der Nähe des Hauses geblieben war, als er den Flur entlang gelaufen war, war schließlich durch die Fenster gedrungen und hatte den Bankettsaal erfüllt.

Beginnend mit denen, die den Fenstern am nächsten waren, sanken die Menschen einer nach dem anderen nieder.

Aaa! Was ist los!“

Holt einen Arzt!“

Der Bankettsaal stürzte schnell ins Chaos, aber auch das dauerte nicht lange. Im Handumdrehen füllte sich der Saal mit dunkelrotem Rauch, und alle Anwesenden brachen zusammen.

Sowohl der Ritter, der die Nachricht überbracht hatte, als auch der Große Lord des Ostens, der allen anderen Anweisungen geben sollte, waren ohnmächtig geworden.





1 Kommentar:

  1. also war es eine falle für luis gewesen und jetzt schnappt sie zu. der grosse lord wollte ja nicht hören als luis in warnte.

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