Das war kein Thema, über das man auf offener Straße reden konnte, also eilten die drei in das Haus des Dorfvorstehers. Sobald sie sich an den Tisch gesetzt hatten, fragte Louison: „Was sagen Sie? Die Frau des Wachhauptmanns ist nach Confosse zurückgekehrt?“
„Es ist genau wie ich gesagt habe. Anna ist vor etwa einem Monat nach Confosse zurückgekehrt.“
Der Dorfvorsteher sprach weiter über Anna. Louison und Carlton wussten bereits, dass sie zur Geburt ihres Kindes in ihr Heimatdorf zurückgekehrt war. Doch sobald sie nach Hause gekommen war und ihre Sachen ausgepackt hatte, hatte sie einen riesigen Streit mit ihrer Familie gehabt. Sie hatte ihre Sachen wieder eingepackt und gesagt, sie würde zurückkehren.
„Sie und ihre Familie hatten ursprünglich nicht das beste Verhältnis. Ich fragte sie, ob es diesen Streit wert sei, da ihre Tochter endlich zur Geburt ihres Kindes zurückgekehrt war. Aber sie sagten mir, es sei eine Familienangelegenheit …“
„Trotzdem sie ist schwanger … Sie haben sie alleine gehen lassen?“
„Anna reiste mit einem Gefolge ab – einer alten Frau und einem Diener. Sie waren eine kleine Gruppe, aber sie hatten auch eine Kutsche. Das reicht. Sie sind schließlich sicher hierhergekommen.“
„Gab es zu der Zeit im Wald noch keine Tausendfüßler?“
Auf Louisons Frage schaute der Dorfvorsteher hoffnungslos drein: „Vielleicht.“
„Vielleicht?“
„Jetzt, wo ich darüber nachdenke… Es könnte sein, dass er bereits im Wald hauste… Aber zu der Zeit wussten wir nicht, dass so ein Monster dort leben würde.“
Die Dorfbewohner hatten erst von der Existenz des riesigen Tausendfüßlers erfahren, als er ihr Dorf angegriffen hatte – erst seitdem zeigte er sich ihnen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie nur bemerkt, dass der Wald sich anders anfühlte als gewöhnlich, aber niemand hätte ein solches Monster erwartet gehabt. Der Wald hatte ihnen lange als sicherer Rückzugsort gedient. Sie hatten einfach angenommen, dass er ihnen immer Schutz bot.
„Sie sind sicher angekommen, also dachte ich, dass sie auch bei der Rückreise gut zurechtkommen würden. Außerdem konnte ich es mir nicht leisten, Annas Angelegenheiten noch mehr Aufmerksamkeit zu widmen.“
„Warum?“
„In dieser Nacht hat der Tausendfüßler das Dorf angegriffen.“
In der Nacht, in der Anna das Dorf verlassen hatte, hatte das Monster angegriffen. Viele Menschen waren im Kampf gegen den Tausendfüßler gestorben. Die Leute waren seitdem verängstigt. Ihr ganzes Leben war zum Stillstand gekommen, und sie waren nun im Dorf isoliert gewesen. In ihrer Angst, dass das Monster zurückkehren könnte, hatten sie bislang überlebt, indem sie die Vorräte für den Winter aufgebraucht hatten.
Es blieb keine Zeit, sich um jemanden zu sorgen, der das Dorf verlassen hatte, während ihr eigenes Leben auf dem Spiel stand.
„Um ehrlich zu sein, … ich hatte Anna völlig vergessen, bis dieser ehrwürdige Pilger nach ihr fragte. Dann … wollen Sie damit sagen, dass Anna nicht in Confosse ist? Sie ist dort überhaupt nicht angekommen?“
„Ja. Zumindest nach Aussage des Wachhauptmanns …“
„Oh Gott, wie konnte das nur geschehen?“ Der Dorfvorsteher wischte sich mit zitternden Händen über das Gesicht. Schnell entschuldigte er sich und floh in die Küche, um Tee zu holen. Man konnte ihn in der Küche weinen hören – offenbar kannte er Anna gut. Die Nachricht musste ein großer Schock für ihn sein.
Beunruhigt wandte sich Louison dem Söldner zu: „Der Wachhauptmann sagte, seine Frau sei nach Hause gegangen, und der Dorfvorsteher sagte, die Frau sei kurz darauf nach Confosse zurückgekehrt. Doch die Frau ist nirgends zu finden. Was in aller Welt ist hier los?“
„Man muss die Dinge nicht verkomplizieren. Die Frau des Wachhauptmanns verschwindet, und keiner bemerkt es wegen des monströsen Tausendfüßlers.“
„… Wenn man es so ausdrückt, klingt es ganz einfach.“ Louison fasste sich an den Kopf. Der Wachhauptmann hatte ihn gebeten, die Lage im Dorf aufzuklären, aber das war nebensächlich und zweitrangig gegenüber der Sicherheit seiner Frau. Doch jetzt war sie verschwunden! In dem Wald, in dem der Riesentausendfüßler umher gestreift war! Egal, wie optimistisch der junge Herzog zu sein versuchte, es schien alles sinnlos.
„…Glaubst du, dass sie noch lebt?“
„Das ist unwahrscheinlich.“ Carltons Worte waren grausam, aber treffend. Wenn die Frau des Wachhauptmanns noch am Leben wäre, wäre sie irgendwo aufgetaucht – wo auch immer das sein würde. Unter diesen Umständen war es sehr wahrscheinlich, dass sie von diesem Monster angegriffen worden war.
„…Was sollen wir dem Wachhauptmann überhaupt sagen…“, murmelte Louison.
Wie sollte er einem Mann, der sehnsüchtig auf seine Frau und sein ungeborenes Kind wartete, mitteilen, dass sie möglicherweise vor einem Monat gestorben war? Schon der Gedanke daran machte ihn schwindelig. Carlton klopfte dem jungen Herzog beruhigend auf den Rücken.
Nachdem er lange geweint hatte, kehrte der Dorfvorsteher an den Tisch zurück. Er bat Louison und Carlton, ihn zu entschuldigen, verließ das Haus und begann, die Dorfbewohner zu versammeln und ihnen mitzuteilen, dass Anna verschwunden sei. Dann beschloss der Dorfvorsteher, zusammen mit den anderen Bewohnern, nach der Frau des Wachhauptmanns zu suchen.
Niemand erwartete wirklich, dass sie noch lebte, doch viele meldeten sich freiwillig zur Suche. Das Dorf, das zuvor ein Fest gefeiert hatte, war nun in Trauer versunken. Eine düstere Atmosphäre, wie bei einem Begräbnis, lag über ihnen allen.
Louison und Carlton ließen das Dorf hinter sich und machten sich wieder auf den Weg.
Sie konnten den Dorfbewohnern nicht helfen und mussten nach Confosse zurückkehren, um dem Wachhauptmann die Neuigkeiten zu überbringen.
Schweigend gingen sie nebeneinander auf dem Waldweg, während Zephys ihnen brav folgte. Louison spielte nervös mit dem Brief des Wachhauptmanns, den er sorgsam in seiner Tasche aufbewahrt hatte. Wie konnte sich ein Blatt Papier so schwer anfühlen? Die Vorstellung, diesen Brief, der nie zugestellt werden konnte, an den ursprünglichen Absender zurückzugeben, war unerträglich.
Hinter sich konnten sie die Geräusche des eiligen Suchtrupps hören, der den Wald durchsuchte.
Dann hielt Carlton Louison plötzlich etwas an den Mund. Der junge Herzog biss instinktiv hinein.
„Was ist das? Hmm, … Trockenfleisch!“
Während er kaute, entfaltete sich der salzige Geschmack auf seiner Zunge. Es war nicht so gut wie das, was in seinem Herzogtums hergestellt wurde, aber der würzige Geschmack des Fleisches hob seine Stimmung.
„Wo hast du das gekauft?“
„Sie werden im Gasthof hergestellt. Mein Herzog tastete ständig in seiner Brusttasche herum – sie schien leer zu sein.“
„Ah. Habe ich das?“
Louison lief rot an. Carlton meinte doch dieses Stück Trockenfleisch, das er immer nahe an seinem Herzen trug, oder? War es so offensichtlich? Es war nicht unbedingt etwas Schlechtes, aber doch eine peinliche Angewohnheit.
„Ich wollte es benutzen, falls mein Herzog einmal nicht auf meine Worte hören will, aber nun habe ich es schon jetzt verwendet.“ Carlton reichte ihm die restlichen Stücke aus seiner Tasche.
Sein Ton klingt neckend, aber er hat wohl auf mich geachtet.
Louison steckte das Fleisch in seine Tasche, nachdem er dem Söldner ebenfalls ein Stück gegeben hatte.
Während sie sich das Trockenfleisch teilten, klang es, als sei hinter ihnen ein Tumult ausgebrochen.
„Was ist es denn diesmal?“ Erschrocken drehte sich Louison um. Gleichzeitig konnten sie einen Dorfbewohner schreien hören.
„Eine Kutsche! Annas Kutsche!“
„Wir haben die Kutsche gefunden! Und … Menschen … ihre Leichen … Ach!“
Louison sah zu Carlton. Seine Augen sagten: Lass uns gehen – vielleicht ist es die Frau des Wachhauptmanns. Carlton nickte – er verstand den stummen Blick des jungen Herzogs.
Die Kutsche lag in einer Lichtung, abseits des Weges zwischen Confosse und dem Dorf. Sie war nicht weit von Louison und Carlton entfernt.
Als die beiden ankamen, hatten sich bereits mehrere Dorfbewohner versammelt, um das Geschehen zu beobachten.
Eine kleine Zweierkutsche war zerstört und lag verstreut auf dem leeren Platz. Blut befleckte den Boden – ein schrecklicher Anblick.
„Anscheinend ist die Kutsche von der Straße abgekommen und wild in diese Richtung gefahren. Sie müssen angegriffen worden sein, während sie versucht haben, ihrem Verfolger zu entkommen“, sagte Carlton, der sich auf dem Gelände umsah.
„War der Angreifer wohl der Riesentausendfüßler?“
„Sehr wahrscheinlich.“
Während der junge Herzog mit Carlton die Gegend erkundete, kam ein Dorfbewohner auf ihn zu.
„Verehrter Pilger. Dort drüben …“
Der Dorfbewohner deutete auf eine Stelle. Zwei Leichen lagen ordentlich nebeneinander. Da sie seit einem Monat im Wald gelegen hatten, waren die Körper in einem schrecklichen Zustand. Louison allerdings zeigte sich unbeeindruckt – er hatte schon zu viele schreckliche Tode gesehen. Angesichts seiner Haltung dachten die Dorfbewohner, dass der Pilger ein wirklich beeindruckendes Wesen war.
„Konnten Sie ihre Identität bestätigen?“, fragte Louison.
„Sie scheinen keine Bewohner unseres Dorfes zu sein – wahrscheinlich handelt es sich um den Diener und die alte Frau, die zu Annas Gefolge gehörten.“
„Sind es nur zwei?“
„Ja, bisher. Wir durchsuchen momentan die Umgebung… Bevor wir die Leichen ins Dorf bringen, könnten Sie vielleicht für sie beten?“, fragten die Dorfbewohner vorsichtig.
Die Menschen in dieser Gegend waren abergläubisch, wenn es darum ging, kürzlich Verstorbene, die unter unglücklichen Umständen gestorben waren, zu bewegen. Sie glaubten, dass ein Priester ihre Seelen beruhigen sollte, damit alles gut werden würde.
Ein Pilger war etwas ganz anderes als ein Priester, doch in den Augen derer, die keine Ahnung von religiöser Hierarchie hatten, schienen die beiden sich ähnlich zu sein.
Ich bin zwar kein wirklicher Pilger, aber wenn es dem Wunsch der Lebenden entspricht…
„Ich kann für sie beten, aber es ist das Beste, die Leichen einzuäschern. Ich bin ein Pilger, kein Priester“, sagte Louison.
„Vielen Dank, verehrter Pilger.“
Louison trat zu den Leichen und sprach ein kurzes Gebet. Er ahmte den einarmigen Heiligen nach, der ihm noch immer lebhaft in Erinnerung war – er übernahm dessen Sprechweise, Gesten und die Art, wie er den Blickkontakt mit den Menschen hielt.
Seine Darbietung war so überzeugend, dass selbst die nur halbgläubigen Dorfbewohner ihre Hände falteten und das Gebet nachahmten.
Carlton sah sich währenddessen die Umgebung an. Nachdem das Gebet beendet war und die Dorfbewohner die Leichen fortgeschafft hatten, trat der Söldner zu Louison.
„Sie wurden vom Tausendfüßler angegriffen.“
„Bist du sicher?“
„Ja.“ Carlton führte Louison um die Kutsche herum. Als er mit dem Fuß das hohe Gras wegdrückte, konnte der junge Herzog gepunktete Spuren auf dem Boden erkennen.
„Was ist das?“
„Wahrscheinlich sind es Spuren von einem Tausendfüßler.“
„Wie kannst du das wissen?“
„Dieses Monster schleppt seinen Körper nicht hinter sich her. Es bewegt sich, indem es seine Beine auf beiden Seiten in den Boden steckt.“
Louison erinnerte sich daran, wie sich der Tausendfüßler zuvor bewegt hatte, und kämpfte vergeblich gegen die aufsteigende Übelkeit an.
„Ngh! So widerlich!“
„Und wenn du hierhin schaust, siehst du Blutflecken neben den Spuren. Sie führen in diese Richtung“, sagte Carlton.
„Dann ist die Frau des Wachhauptmanns wohl…“
„Da ihre Leiche fehlt und Blutspuren vorhanden sind, wurde sie höchstwahrscheinlich von dem Riesentausendfüßler mitgenommen. Ich glaube nicht, dass sie noch lebt.“
„Mmm…“
Etwas daran störte ihn. Warum hatte das Monster die beiden anderen Leichen zurückgelassen und nur die Frau des Wachhauptmanns mitgenommen? Wenn es Nahrung wollte, wäre der Diener doch eine ebenso gute Beute gewesen.
Louison starrte reglos in die Richtung, in die die Spuren führten. Obwohl es heller Tag war und die Sonne schien, sah der Wald in der Ferne düster aus. Der Tausendfüßler war tot. Sie hatten ihn verbrannt und so seinen Kadaver vernichtet. Trotzdem hatte er das unheilvolle Gefühl, dass die ganze Sache noch nicht vorbei war.
Ist es nicht traurig wie wenig wohlwollen Carlton in seinem Leben erfahren hat, dank Louison ändert sich das wenigstens ein bisschen.
AntwortenLöschenOh man, die Story wird doch nicht so grausam sein das sie Mutter und Kind umbringt oder?
Ich hoffe nur es kommen keine Spinnen oder so vor. Irgendwie muss ich bei diesem Kapitel ab und zu an die ekligen Viecher im Dschungel von King Kong denken. Diese großen Blutegel und was weiß ich noch was haben mir damals eine Heidenangst und Ekel eingejagt. Kennt noch jemand diesen Film von Peter Jackson?
Man will gar nicht so genau drüber nachdenken, wie sich so ein Tausendfüßler bewegt. So faszinierend die auch aussehen, aber die ganzen Beine... Wenn ich auch jedes Mal an Tokyo Ghoul denken muss XD
AntwortenLöschenAber ja, es gibt viele Fragen. Die Leichen der anderen sind aufgetaucht und auch Spuren vom Kampf sind zu sehen, aber von ihr fehlt jede Spur. Bin gespannt was noch rauskommen wird.
Die Vorstellung, von so einem widerlichen Tausendfüßler zu weiß was für Zwecke mitgenommen zu werden, verursacht ja Gänsehaut, die arme Anna
AntwortenLöschenoh nein sie haben 2 von den 3 gefunden. aber wo ist anna wieso wure sie verschleppt von dem vieh. wäre schön wenn sie noch leben würde und zu ihrem mann aber leider wird es woll nicht so sein. abr wieso nur anna. werden sie sie noch finden.
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