„Wie auch immer, … was sollen wir tun? Wir müssen in die Burg, um deine Männer zu finden, aber ich glaube nicht, dass die Kontrolle nur von kurzer Dauer sein wird.“
Die Stimmung vor den Toren schien zu ernst, um ein einmaliges, unerwartetes Ereignis zu sein.
„Das stimmt. Vielleicht sollte ich warten, bis es dunkel wird, und dann die Mauern hochklettern.“
„Die Mauern erklimmen? Die Burgmauern?“ Überrascht blickte Louison zwischen den Mauern und Carlton hin und her. Der Söldner hatte erklärt, er würde die Mauer – die so hoch aussah wie ein dreistöckiges Gebäude – ohne Leiter erklimmen?!
„Es wird schwierig werden und lange dauern, aber ich habe keine Wahl. Ich werde dich auf meinem Rücken tragen.“
„Was? Bist du überhaupt ein Mensch? Antworte mir ehrlich. Deine Vorfahren haben sich doch nicht mit denen von Trollen oder dergleichen vermischt, oder?“
„Das war nur ein Scherz“, meinte Carlton. Louison dachte jedoch, dass es für Carlton tatsächlich möglich gewesen sein könnte – immerhin war dieser Mann mit dem jungen Herzog einen Wasserfall heruntergesprungen.
„…Lass uns normal hineingehen. Ganz ordentlich, auf unseren zwei Beinen.“
„Hast du einen Plan?“
„Nun… Einen etwas improvisierten… Folge mir.“ Louison übernahm die Führung, und Carlton folgte ihm gehorsam, während er die Zügel des Esels hielt. In den letzten Tagen war Louison immer hinter Carlton hergegangen und hatte dessen Rücken angestarrt. Jetzt waren ihre Positionen vertauscht. Es fühlte sich merkwürdig an. Die beiden umrundeten die Mauer.
Louisons Ziel war die Seite der Mauer. Stellen, die an den nahegelegenen Wald grenzten und besonders verwildert waren. Auf diese Stellen konzentrierte sich Louison bei der Suche.
Neben der dicken Mauern stand ein ungewöhnlich knorriger und stark gewachsener Baum. Nachdem Louison einen Ast beiseite geschoben hatte, konnten die beiden ein Fenster dahinter sehen. Es war gerade groß genug, dass sich ein erwachsener Mann hindurchzwängen konnte. Das Problem war jedoch die Eisenplatte, die das Fenster blockierte.
„Wer hätte gedacht, dass das hier sein würde. Aber dieser Weg ist ordentlich versperrt“, Carlton klopfte auf die Eisenplatte, „Ich glaube, es wird ein lautes Geräusch machen, wenn ich sie mit Gewalt herausreißen würde.“
„So macht man das auch nicht – Es gibt für alles eine Lösung. Bei so etwas sollte man sich nicht auf die Eisenplatte konzentrieren. Es ist einfacher, sie zu entfernen, wenn man die umgebenden Ziegel herausnimmt“, erklärte Louison.
Dann hob er einen abgefallenen Ast auf und verkeilte ihn in den Ziegeln rund um die Eisenplatte. Die Ziegel, welche fest mit der Eisenplatte verbunden waren, begannen zu wackeln. Carlton bemerkte, was Louison vorhatte, und zog kräftig an der Eisenplatte.
Die Ziegel bröckelten und die Platte fiel heraus.
„Warst du schon einmal in Confosse?“
„Nein, das ist mein erstes Mal hier, aber Burgen haben oft solche Zugänge, wie diesen.“
Egal wie offen die Tore im Allgemeinen standen, es gab immer Menschen, die kein Verlangen danach hatten, auf legalem Wege einzutreten. Louison zuckte mit den Schultern.
„Hast du das alles auch von dem Pilger gelernt?“, fragte Carlton.
„Nein, das habe ich von jemand anderem gelernt.“
Der einarmige Pilger hatte einen Pilgerpass bei sich getragen gehabt und hatte das Haupttor unbesorgt betreten und verlassen können. Louison hatte dieses Wissen von einem großzügigen Bettler erlernt gehabt, den er auf seinen Wanderungen kennengelernt hatte. Das war eine geheime Methode für diejenigen gewesen, die nicht auf rechtmäßige Weise durch die Tore hatten kommen können.
Louison und Carlton betraten die Stadt durch den Zugang. Louison wollte den Esel mitnehmen, aber das arme Tier hätte nicht durch den Zugang passen. Deshalb waren sie gezwungen, ihn draußen frei laufen zu lassen. Da der Esel bislang alleine im Wald überlebt hatte, sollte es ihm gut gehen.
Der Zugang führte zu einer verlassenen Sackgasse.
„Wohin sollen wir von hier aus gehen?“
„Lass uns zuerst zum zentralen Platz gehen.“
„Auf dem Platz gibt es so etwas wie Anschlagtafeln, oder?“ Louison hatte geglaubt, auf diesen Plätzen schon einmal etwas Ähnliches gesehen zu haben. Er hatte sich gefragt, wer so etwas jemals benutzen würde, aber es schien, als würden die Leute – zum Beispiel Carlton – sie tatsächlich nutzen.
Louison richtete seine Gewänder ordentlich her und stellte sicher, dass sein Gesicht gut verborgen war. Carlton nickte und danach gingen die beiden ganz normal zur Hauptstraße und mischten sich unter die Menge. Carltons kräftige Statur fiel ein wenig auf, aber er erntete nur ein paar flüchtige Blicke – immerhin gab es in dieser Burg eine Söldnergilde.
Die innere Struktur der Stadt war recht gewöhnlich, daher fanden die beiden schnell den Platz. Dort herrschte ein ziemliches Gedränge – ein kleines Chaos. Es gab zwei Anschlagtafeln. Eine Tafel enthielt die Befehle und Dekrete des amtierenden Burgherrn sowie andere Neuigkeiten, die für die Bewohner relevant waren. Die andere Tafel konnte von jedem frei genutzt werden.
Es war schwierig, sich den Tafeln zu nähern, weil zu viele Leute davor standen, aber Louison hatte Carlton bei sich. Immer wenn Carlton die Stirn runzelte und voranschritt, wichen die umstehenden Leute zur Seite.
„Hier ist es.“ Die Nachricht war leicht zu finden. Ähnlich wie die im Gasthaus, war sie an 'meine geliebte Ennis' gerichtet. Der Inhalt war jedoch völlig anders.
Die Nachricht gab nicht vor, ein schüchterner Liebesbrief zu sein, noch waren darin geheime Passwörter versteckt. Der Schreiber hatte einen unglaublich präzisen Kommentar hinterlassen.
[ X ist dem Untergang geweiht ]
,,……?‘‘
Louison glaubte, er habe sich verlesen. „Lese ich das falsch? Da steht etwas Seltsames. Bist du sicher, dass das die richtige Nachricht ist?“
„Ich glaube, das ist die richtige“, antwortete Carlton, ebenfalls verwirrt.
„Heißt das, dass etwas schiefgelaufen ist?“
„…“ Carlton betrachtete die Nachricht mit ernster Miene. Dann stürzte er plötzlich auf das offizielle, herrschaftliche Schwarze Brett. Er stieß alle beiseite und blieb vorne stehen. Dort konnte er deutlich ein offizielles Dekret erkennen.
Louison stotterte, als er es auch las: „Der Herzog von Anness wurde entführt … Der Täter ist … Carlton …?“
Ich? Ich wurde entführt?
Louison war schockiert, als er erkannte, dass alles auf eine Weise dargestellt wurde, die Carlton als Schuldigen hinstellte. Die Neuigkeiten am Brett machten ihn sprachlos, und er konnte nur entsetzt auf Carlton schauen.
Egal wie oft Louison das offizielle Dekret las, der Inhalt änderte sich nicht. Das Dekret war vom Herzogtum autorisiert – der Herzog von Anness war von Carlton entführt worden. Wer relevante Informationen hatte, solle sie melden. Der General, der als offizieller Vertreter des Herzogtums autorisiert war, hatte das Dekret unten unterschrieben, das Papier war also nicht gefälscht.
„Das heißt also …“ Alarmiert sah Louison Carlton an, bevor er noch einmal auf die zerknitterte Nachricht in der Hand des Söldners blickte.
[ X ist dem Untergang geweiht ]
Die prägnanten Worte brannten sich in die Gedanken des jungen Herzogs ein.
Dem Untergang geweiht.
Ja, so schien es.
Was ist hier los, General?!, schrie Louison innerlich seinen Beratern im Herzogtum zu. Obwohl er verwirrt war, konnte er die lauten Geräusche derer hören, die sich um die Anschlagtafeln versammelt hatten.
„Anscheinend haben während der Schlacht eine ganze Reihe Söldner und Soldaten den Herzog verfolgt. Im Chaos wurde der Herzog dann gefangen genommen und entführt. Angeblich sollen diese Leute zu Carltons Männern gehören“, hörte Louison einen der Umstehenden sagen.
„Bist du sicher? Ich habe gehört, dass die Armee dieses Mannes in den Norden gezogen ist und eine riesige Trophäe mitgebracht hat.“
Carltons Männer mussten es geschafft haben, nur diese eine Nachricht zu hinterlassen, bevor sie von Soldaten aufgegriffen wurden. Louison blickte zu Carlton hinüber, dessen Gesicht blass geworden war. Carlton konnte unmöglich überhört haben, was Louison gerade mitbekommen hatte.
„Ist dieser sogenannte Edelschlächter nicht die rechte Hand des Prinzen? Warum sollte er dann einen der großen Lords entführen?“, fragte jemand aus der Menge.
„Ich schätze, er ist verrückt geworden.“
„Er ist ein Bauer, der in einen Stand aufgestiegen ist, der weit über seine Verhältnisse hinausgeht – meinst du, so jemand könnte noch bei klarem Verstand sein?“, spottete eine weitere Person.
Carlton fühlte, wie es in ihm brodelte. Sicher, er hatte einige Adlige getötet – und ja, er hatte sie auch schikaniert – aber das war im Bürgerkrieg akzeptabel gewesen. Er hatte keinen Grund, jemanden zu entführen, noch gab es Beweise dafür, dass er jemals Louison entführt hätte.
Carlton wurde jedoch wie ein Krimineller behandelt, nur weil er und Louison zusammen verschwunden waren. Seine Männer wurden zu Unrecht gefangen genommen. Er fühlte sich ungerecht behandelt und war wütend.
Ruger, der eigentliche Mistkerl, der versucht hat, Louison zu entführen, ist ein Adliger. Es ist offensichtlich, dass auch die Person hinter Ruger von adligem Blut sein muss. Trotzdem werden meine Männer und ich nur aufgrund unserer niedrigen Herkunft so behandelt?
Carlton rollte mit den Augen.
Wut keimte in seinem Herzen auf. Er wollte die Hälse derjenigen würgen, die lachten. Als der Söldner nach vorn griff – um seiner Wut zu folgen und auf die Umstehenden einzuschlagen, – packte Louison schnell Carltons Arm: „Beruhige dich, ja? Halte dich jetzt einfach zurück.“
Louison ließ seine blauen Augen unter seiner Kapuze hervorblitzen. Carlton hielt inne, sein Zorn war für einen Moment abgeebbt, als er den gequälten Gesichtsausdruck des jungen Herzogs sah, – als wäre er persönlich beleidigt worden.
„Ich werde mir anhören, was immer du sagst – welche Flüche du auch schreien willst. In Ordnung?“ Louisons beruhigende Stimme klang ein wenig unsicher.
Carlton wurde sich seiner Umgebung wieder bewusst.
Stimmt, ich bin nicht allein. Jetzt ist nicht die Zeit, auszurasten. Es ist Zeit, geduldig zu sein. Ich muss Louison immer noch beschützen.
Mit diesem Gedanken legte sich seine Wut schnell. „Es tut mir leid. Ich war einfach so wütend, ich...“, begann Carlton
Wenn er darüber nachdachte, hatte Louison den Söldner schon einmal gewarnt, sein Temperament zu zügeln. Carlton musterte den jungen Herzog.
Louison war einfach nur erleichtert, dass Carlton sich beruhigt hatte. Sein Temperament würde ihm irgendwann zum Verhängnis werden. Dennoch, was für ein Glück – der Söldner hatte die Kommentare gut hingenommen.
„Lass uns erst mal an einen ruhigen Ort gehen“, sagte Louison.
„Ja.“
Die beiden schlichen vom Platz und kletterten durch denselben Zugang hinaus. Der Esel graste friedlich auf der Wiese. Als das Tier die beiden sah, kam es auf Louison zu und legte seinen Kopf an den jungen Herzog.
Was für ein sorgloser Kerl. Das Fell des Esels war kurz und rau, aber Louison fühlte, wie sich sein zitterndes Herz beruhigte, als er das Tier sanft streichelte. Vielleicht war das der Grund, warum Menschen Haustiere hielten. Louison griff nach Carltons Hand und legte sie auf den Kopf des Esels, damit auch der Söldner etwas Trost finden konnte.
„Dass sie wirklich glauben, du hättest mich entführt. Wie kann es sein, dass alle Nachrichten über den echten Entführer und den Monsterangriff einfach so verschwunden sind? Was denkst du darüber?“, fragte Louison.
„Es ist wahrscheinlich alles Rugers Werk“, sagte Carlton mit Überzeugung, „Niemand weiß, dass er ein Spion ist, oder? Die einzigen, die Bescheid wissen, sind mein Herzog und ich – und wir sind gemeinsam verschwunden. Da ist es verständlich, dass sie denken, ich hätte meinen Herzog entführt.“
„Wie kann das verständlich sein? Egal, wie man es betrachtet, du bist nicht der Mensch, der jemanden entführt“, erwiderte Louison entschieden, aber Carlton hatte recht.
Oh je, wieder ein neues Problem, die beiden kommen aber nicht zur Ruhe, armer Carlton, Opfer solcher infamer Anschuldigungen
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