Kapitel 69


Der junge Herzog lief ziellos umher und versuchte, Carlton aus dem Weg zu gehen. Schon bald begann sich das Schiff zu bewegen.

Louison ging an Deck. Die Abendsonne war fast untergegangen und der Himmel und die Flüsse waren rot gefärbt. Der große Fluss floss ruhig und still dahin. Er beobachtete, wie das Schiff durch das Wasser schnitt. Plötzlich drehte er sich um – Mittils Hafen entfernte sich mit stetigem Tempo. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er den Süden verließ.

Die beiden waren ihren Verfolgern entkommen und hatten es geschafft, sicher an Bord des Schiffes zu gelangen. Nach der Überquerung des Flusses würden sie wahrscheinlich nicht mehr so stark von der Gefahr einer Verfolgung bedroht sein. Dem jungen Herzog jedoch wurde das Herz schwer – immerhin war er nach seinem Tod endlich in die Geborgenheit seiner Heimatstadt zurückgekehrt.

Aber es ist ja nicht so, als ob ich für immer weg wäre, oder? Meine Situation ist anders als damals.

Louison warf Carlton einen Seitenblick zu. Der Söldner stand in einem unbestimmten Abstand. Sie standen weder nah beieinander noch weit auseinander. Diese unentschlossene Distanz war von Unbehagen erfüllt.

Carlton blickte weit über den Horizont auf den Fluss. Sein strenger Blick wirkte sehr ernst. Lag es daran, dass das rote Licht des Sonnenuntergangs zu schwinden begann? Louison fühlte, wie sich seine Brust zusammenzog. Gelegentlich ließ die charakteristische scharfe Aura von Carlton das Herz des jungen Herzogs schneller schlagen.

Wenn jemand Louison fragen würde, ob er immer noch Angst vor seinem Gefährten hätte, wäre die Antwort ein klares Nein. Obwohl der junge Herzog lange Zeit unter Wahnvorstellungen gelitten hatte, dass ein schwarzer Ritter – ein illusorischer Carlton – kommen würde, um ihn zu töten, hatte der Mann ihm viele Male das Leben gerettet und über ihn gewacht. Dieses Gefühl war eher eine schwindelerregende Anspannung als Angst gewesen. Obwohl er wusste, dass der Söldner ihm nichts antun würde, hatte er dennoch das Gefühl, sich nicht entspannen zu können.

Carlton drehte sich um und starrte den jungen Herzog an. Sobald sich ihre Blicke trafen, runzelte er die Stirn.

Ach, ich starre ihn schon zu lange an. Louison drehte verlegen den Kopf weg. Carlton scheint immer noch sehr wütend zu sein. Was soll ich tun, wenn das so weitergeht?

Es war noch ein langer Weg, und er wollte in der Hauptstadt mit Carlton gut auskommen.

Schau … wir müssen das irgendwie klären, irgendwie … wie … fange ich mit der Versöhnung an?

Bei den flüchtigen Beziehungen, die Louison in der vorherigen Zeitlinie geknüpft hatte, kniete in der Regel die eine oder die andere Seite nieder, wenn es ein Problem gab. Vor seiner unglücklichen Flucht in der Nacht hatten andere vor dem jungen Lord gekniet. Nach der Flucht war Louison derjenige gewesen, der kniete.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Carlton vor mir kniet …

Es war der Söldner, der den einarmigen Pilger zuerst beleidigt hatte, also würde er wahrscheinlich nicht als Erster niederknien.

Was tun…

Während Louison nachdachte, hörte er eine willkommene Stimme.

„So, hier seid ihr!“, Morrison kam auf sie zu, „Wenn ihr nichts zu tun habt, kommt bitte mit. Ich möchte euch meiner Familie vorstellen.“

„Natürlich.“ Louison fragte den Söldner nicht einmal nach seiner Meinung und nahm die Einladung an. Carlton runzelte die Stirn, doch der junge Herzog ignorierte das.

Er fühlte sich erdrückt, weil er mit dem Söldner allein war, und wollte mit Morrison, einem ehemaligen Wohltäter, sprechen. Als Louison dem Händler folgte, folgte ihm auch Carlton.

Hmm, du folgst mir immer noch? Louison stieß einen tiefen Seufzer aus. „Wie heißt die Karawane unter der Sie arbeiteten …?“

„Nakatan-Karawane. Sie wissen das wahrscheinlich nicht – wir konzentrieren uns normalerweise auf die oberen Regionen. Wir hatten nie das Bedürfnis, in den Süden zu kommen. Zumindest bis jetzt.“

„Was ist eure Hauptware?“

„Stoffe.“

Louison stellte Morrison verschiedene Fragen zu seiner Karawane. Der junge Herzog wollte, sobald er seinen früheren Status wiederherstellen konnte, dem Händler die Hilfe zurückzugeben, die er erhalten hatte.

Es ist ein bisschen zu heikel, die Geschäftsbeziehungen direkt mit dem Schloss abzuwickeln … Am besten wäre es, ihn stattdessen mit einem Dorf innerhalb des Herzogtums in Verbindung zu bringen.

Während sie sich unterhielten, erreichten sie bald Morrisons Kajüte. Die Kajüte des Mannes war mit einem kleinen Tisch ausgestattet. Ein weiterer Raum war an den ersten angeschlossen. Die übrigen Mitarbeiter des Händlers waren bereits dort versammelt – eine Frau und drei Männer. Obwohl sie sich in unterschiedlichen Lebensabschnitten befanden, herrschte bei ihnen allen die gleiche Atmosphäre. Als Händler, die viel reisen mussten, wirkten sie ziemlich stark und fit.

„Das sind die Leute, von denen ich vorhin gesprochen habe.“ Morrison stellte seinen Mitarbeitern den jungen Herzog und seinen Begleiter vor. Louison begrüßte sie, wie es sich für einen Pilger gehörte, und Carlton nickte knapp.

„Ich freue mich, dass ihr beide kommen konntet. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie aufgeregt ich war, als die vorherigen Söldner sagten, sie könnten nicht kommen … Ah, wollt ihr etwas trinken? Setzt euch bitte.“

Die Mitarbeiter des Händlers hießen die beiden freudig willkommen. Sie reichten Stühle herbei und füllten die Gläser mit Wein. Der Söldner lehnte ab und stellte sich an die Wand. Louison warf einen verstohlenen Blick auf den Söldner.

Louison fühlte sich ein wenig schuldig und niedergeschlagen – der andere war schlecht gelaunt und er hatte ihn trotzdem hierher geschleppt.

„Im Süden und auf diesem Schiff gibt es nicht viel, aber wenn wir an Land gehen, wird es anders sein. Es gibt nicht nur Monster, auch die Banditen sind nie verschwunden.“

„Ist es um die Sicherheit im Norden so schlecht bestellt?“

„Ja, es gibt viele Orte, an denen der herrschende Lord entweder gestorben ist oder ein Trottel in die Verantwortung gesetzt wurde. Monster sind definitiv ein Ärgernis, ja, aber freiberufliche Söldner haben sich zu Banditen gewandelt und begonnen, Reisende auszurauben.“

Es kam häufig vor, dass Söldner, die nicht in der Lage waren, auf legalem Wege an Geld zu kommen, sich dem Diebstahl zuwandten. Die Söldnergilde war gegründet worden, um die Situation zu überbrücken, aber sie konnte nicht alle Gesetzlosen kontrollieren. Louison spitzte die Ohren und hörte den Händlern zu, wie sie sich an ihre Reisen erinnerten.

„Es gibt keinen Ort auf der Welt, an dem man ohne Angst gemütlich reisen kann. Ich habe gehört, dass es im Süden besser ist, aber … Angeblich wurde der Herzog von Anness, einer der Großen Lords, entführt. Einem der Gerüchte zufolge.“

Louison war entsetzt über Morrisons Worte. Warum das schon wieder? Obwohl es dem jungen Herzog peinlich war, war er neugierig, welche Gerüchte sonst noch im Umlauf waren.

„Gerüchte?“

„Ja, nun ja. Manche behaupten, es sei keine Entführung gewesen und sie seien aus Liebe durchgebrannt.“

„Was?“ Es war so absurd, dass Louisons Mund nicht anders konnte, als weit offen zu stehen. Zum Glück war sein Gesichtsausdruck durch die Kapuze nicht zu erkennen. Sonst wären die anderen vielleicht misstrauisch geworden, ob seiner übertriebenen Überraschung.

„Es gibt eine Menge Unsinn wie das. Carltons Spitzname ist der Edelmetzger. Er wäre nicht mit einem Adligen durchgebrannt. Deshalb denke ich, dass es wahrscheinlicher ist, dass …“

„Das ist unmöglich.“ Louison wies das entschieden zurück. Carlton starrte den jungen Herzog an. Der Zorn des Söldners war so durchdringend, dass der Hinterkopf des jungen Herzogs heiß wurde. Morrison hatte unwissentlich sowohl Louison als auch Carlton einen Schlag versetzt.

„Auf jeden Fall wurden wir wegen dieses Gerüchts an den Kontrollpunkten so oft schikaniert. In gewisser Weise beneide ich Sie, verehrter Pilger. Wer würde es wagen, Sie mit diesem Pass aufzuhalten?“

„Natürlich.“

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, könnte ich einen Blick auf Ihren Pilgerpass werfen?“

„Ja, nun. Wenn es nur darum geht, zu schauen… Bitte geben Sie ihn mir danach zurück.“ Louison war damit einverstanden, den Pass vorzuzeigen – er war nur so froh, dass das Thema gewechselt hatte. Morrison hielt den Pass ins Kerzenlicht, um ihn zu betrachten.

Morrison starrte auf das glänzende Silber: „Das ist echt. Wo haben Sie den her?“

„Von der Kirche, natürlich.“

„Ah ja. Es ist immerhin ein Pilgerpass. Ich habe mich gefragt, wo Sie Ihre Pilgerreise begonnen haben.“

„Ah, Sie meinten das? Ich bin im Nordwesten gestartet.“ Louison drückte sich vage aus. Es war nicht ungewöhnlich, dass Pilger ihre Herkunft verheimlichten.

„Im Nordwesten. Wann sind Sie in den Süden gekommen? Wenn Sie die Situation zu Hause nicht kennen, müssen Sie schon lange im Süden gewesen sein. Habt ihr euch hier kennengelernt? Oder wart ihr von Anfang an zusammen?“

Obwohl er das Gefühl hatte, der Händler würde ihn verhören, antwortete Louison aufrichtig.

„Ich bin als Flüchtling in den Süden geflohen und bin deshalb schon lange hier unten. Wir haben uns in Confosse kennengelernt.“

„Confosse, was? Es ist nicht weit von hier, aber ihr seid euch ziemlich schnell nahe gekommen.“

„Also…“

„Das passiert, wenn man reist. Wenn man sich aufeinander verlässt, wächst die Zuneigung ganz natürlich“, erklärte Carlton.

Morrison blickte abwechselnd zwischen Louison und Carlton hin und her. Irgendwie war der Blick so enthusiastisch … dass der junge Herzog eine Gänsehaut bekam.

„So sind wir nicht.“

„Natürlich, natürlich.“

Ehrlich, dieser Kerl hört nicht gut zu. Mag er nur Liebesgeschichten? Louisons Eindruck von dem Mann änderte sich von einem guten Menschen zu einer seltsamen und wahnhaften Person.

Statt ihm bei seinen Geschäften zu helfen, muss ich ihn ihm eine Geliebte vorstellen …?

Zum Glück war dieses Thema damit beendet. Louison unterhielt sich lange mit Morrison und seinen Mitarbeitern. Wäre da nicht die lächerliche Wahnvorstellung des Händlers, wäre Morrison ein angenehmer und redseliger Gesprächspartner gewesen.

Carlton lehnte weiterhin an der Wand und beobachtete die Szene still. …Verdammt.

Obwohl sich der Gesichtsausdruck des Söldners nicht änderte, brodelte es in ihm. Louison lächelte während des ganzen Gesprächs, doch wenn sich ihre Blicke trafen, wurde sein Gesicht starr. Der junge Herzog versuchte ebenfalls, Augenkontakt zu vermeiden und sprach nicht mit Carlton.

Obwohl Carlton Louison bei ihrer ersten Begegnung schrecklich behandelt hatte, hatte der junge Herzog ihn nie so sehr ignoriert.

Der Söldner erkannte, dass er wirklich einen Fehler gemacht hatte. Ha, Verdammt. Warum habe ich das gesagt?

Ehrlich gesagt, verstand er, dass er sich kindisch verhalten hatte. Wer würde es mögen, wenn jemand, den man respektiert, als Betrüger bezeichnet wird? Er wusste, dass er das in dieser Situation nicht hätte sagen sollen, aber da war er blind gewesen.

Und warum ist dieser Kerl so anhänglich?

Morrison verringerte langsam die Distanz zwischen ihm und dem jungen Herzog, während sie ihre Gläser aneinander stießen. Aus irgendeinem Grund mochte Louison Morrison, also hielt der junge Herzog das für bloßes freundliches Verhalten.

Wenn mich jemand ansprechen würde, während ich schon mit den Nerven am Ende bin und mir Sorgen um Gefolgsleute mache? Ich würde keine Minute lang meine Deckung fallen lassen.

Carlton biss die Zähne zusammen. Er will mir nicht in die Augen sehen, ist aber durchaus bereit, mit dem Kerl zu lachen.

In diesem Moment blickten Carlton und Morrison einander an. Der Händler starrte den Söldner unverhohlen an, bevor er sich wieder Louison zuwandte. Aus irgendeinem Grund erregte diese banale Aktion die Aufmerksamkeit des Söldners. Auf den ersten Blick war an diesem Mann nichts Verdächtiges – er war ein freundlicher, umgänglicher Händler.

Ich mag diesen Kerl nicht. Carlton kniff die Augen zusammen und spielte mit dem Griff seines Schwertes. Er konnte nicht sagen, ob der Mann ihn einfach nur ärgerte oder ob der Söldner verärgert war, weil der Mann vorgab, mit dem jungen Herzog befreundet zu sein. Carlton konnte ihm überhaupt nicht ins Herz sehen. Er war sich jedoch sicher, dass er etwas gegen die aktuelle Situation unternehmen musste.

Louison war unglaublich wütend auf ihn, so dass inzwischen ein zwielichtiger Mann neben dem jungen Herzog Platz nehmen konnte. Und das passte dem Söldner nicht. Wer wusste schon, wo der einarmige Pilger sein mochte, aber im Moment hatte er Morrison im Visier.





1 Kommentar:

  1. Die zwei machen es sich weiterhin schwer. XD Und Morrison ist da nicht gerade eine Hilfe. Im Gegenteil. Die Stimmung bei Carlton sinkt immer mehr.

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