Kapitel 57


Teil 6: Zufällige Begegnungen und diskrete Anfragen


Am nächsten Morgen öffnete Louison seine Augen recht früh. Die Sonne war gerade dabei schwach aufzugehen. Herzog und Söldner bereiteten sich halb wach auf den Aufbruch vor.

Louison trug eine Robe über der Kleidung, die er am Tag zuvor getragen hatte. Die Robe bedeckte alles – es war, als wären Ärmel an einem riesigen Sack mit einem Loch für den Kopf befestigt. Der junge Herzog zog die Kapuze der Robe über den Kopf und trug zur Sicherheit noch eine weitere Kapuze, die er aus dem Dorf mitgenommen hatte. Der Saum der Kapuze reichte bis zu seiner Nase und bedeckte die Gesichtszüge des jungen Herzogs vollständig. Nachdem er den sackartigen Bauch mit einem dicken Seil – statt mit einem Gürtel – zusammengebunden hatte, war Louisons körperliche Statur verschleiert.

Wenn er die Schultern nach vorne beugen und den Rücken krümmen würde, könnte Louison sogar seine Körpergröße verbergen. Er könnte wie eine ganz andere Person wirken. Als Nächstes befestigte der junge Herzog ein Holzkreuz, seine heilige Reliquie, am Seil. Auf den ersten Blick sah er unverkennbar wie ein Pilger aus.

Carlton und Louison folgten der Straße geradewegs in Richtung des entfernten Tores. Selbst im Morgengrauen waren die Straßen von Confosse voller Menschen, die abreisten. Da die Anwesenden es gewohnt waren, weite Strecken zurückzulegen, war die Menge noch lebhafter und lauter als tagsüber.

Louison war zunächst nervös. Doch es schien, als würde sich keiner der Reisenden um sie kümmern, und so beruhigte sich sein Herz schnell. Es gab sogar Leute, die Louison mit gefalteten Händen begrüßten, als sie den Pilgerpass um seinen Hals hängen sahen. Jedes Mal neigte Louison höflich und sittsam den Kopf und ahmte den einarmigen Pilger nach.

Sehe ich wohl ein wenig wie der Heilige aus?

Louison war aufgeregt bei dem Gedanken, dass er dem Mann, den er bewunderte, ähnlich sehen könnte. Automatisch stieg Freude in ihm auf, als er versuchte, sich an den einarmigen Heiligen zu erinnern und seinen Gang zu kopieren. Als er versuchte, diesen unsicheren Gang mit seinem steifen Körper nachzuahmen, knarrten seine Gelenke wie Holzstücke. Es war seltsam – er sah aus wie eine erschrockene Katze.

Carlton, der diesen Anblick nicht mehr ertragen konnte, klopfte Louison auf die Schulter: „Geh bitte ordentlich.“

„…Ich wollte wie ein Pilger gehen.“

Du siehst verkrampft aus.“

Verkrampft…?“

Es schien, als könne er die Kühle des Heiligen nicht nachahmen. Louison löste die Anspannung aus seinem Körper und nahm wieder seine gewohnt leichten Schritte an.

Trotz seiner Kritik machte sich Carlton keine Sorgen über Louisons Fähigkeit, sich als Pilger auszugeben. Schließlich kamen Pilger aus den unterschiedlichsten Verhältnissen, so dass Louisons unbekümmerte Haltung – als wäre er ein Vogel, der beim Gehen mit seinen Schwanzfedern wedelt – nicht fehl am Platz war.

Es ist in Ordnung, wenn dein Gang ein wenig aristokratisch wirkt. Pass lieber auf, was du sagst. Es gibt keine Pilger, die von oben herab sprechen.“

Ich weiß.“

Hast du jemals bescheiden gesprochen?“

Natürlich. Und zwar oft.

Das Erste, was Louison tat, um als Bettler zu überleben, war, seine Gesprächsgewohnheiten zu ändern. „Ich habe mehr Erfahrung, als der Herr Söldner erwartet. Bitte, mach dir keine Sorgen. Vielmehr solltest du darauf achten, wie du mich ansprichst.“

Louison sprach sanft und förmlich. Carlton war zufrieden – es war nicht einfach, eine höfliche und bescheidene Ausstrahlung zu bewahren.

Obwohl es gut ist, mich Herr Söldner zu nennen, kannst du mich auch mit ‚Carl‘ anreden, meiner neuen Identität. Von nun an werde ich dich ehrwürdiger Pilger nennen.“

Ja, gerne.“

Die beiden gingen zum Tor, während sie sich ungezwungen unterhielten. Da Carltons Männer in Confosse gefangen genommen worden waren, wurden diejenigen, die die Burg verließen, ebenso gründlich untersucht wie diejenigen, die sie betraten. Die beiden hatten wenig Gepäck und mit Hilfe des Pilgerpasses kamen sie problemlos durch.

Nachdem sie durch das Tor gegangen waren, gingen die beiden zum versteckten Zugang, um nachzusehen, ob der Esel, den sie dort zurückgelassen hatten, noch da war. Doch unerwarteterweise waren dort Leute – zwei Männer in gewöhnlichen Tuniken – relativ junge Wachleute. Die Männer lieferten sich ein Tauziehen mit einem schwarzen Pferd.

Die Männer zogen gemeinsam an den Zügeln des Pferdes, doch das Pferd rührte sich nicht. Stattdessen wurden die beiden Männer mitgeschleift, als das Pferd zurückwich.

Carlton und Louison hielten an, ohne sich näher heranzuwagen.

Sie sehen aus wie Wachleute, oder? Was machen die hier? Und mein Esel ist da drüben!“ Louison wollte gerade losstürmen, doch der Esel stand direkt hinter dem schwarzen Pferd. Der Esel fraß Gras, ohne auf das Chaos vor ihm zu achten. So ein unbekümmerter Kerl.

Was sollen wir tun?“ Louison wandte sich dem Söldner zu.

Carlton starrte jedoch auf das schwarze Pferd und nicht auf den Esel. „Zephys …“

Zephys?

Das war ein vertrauter Name.

Louison fiel sofort ein, dass Carltons geliebtes Pferd Zephys hieß.

Dein Pferd? Das schwarze Pferd ist deines?“

Carlton nickte. Erschrocken blickte Louison wieder auf das schwarze Pferd. Bei näherer Betrachtung sah sein Fell rau und dünn aus, aber der schwarze Glanz von Kopf bis Schweif und sein hübsches Gesicht kamen ihm bekannt vor. Der Körper war gut ausbalanciert. Seine Beine waren straff und lang. Es war ein seltenes, ausgezeichnetes Militärpferd mit entsprechenden Muskeln. Bei genauer Betrachtung sah es genauso aus wie Carltons Pferd.

Aber warum ist dein Pferd hier? Unsere Wege trennten sich in den Bergen. Könnte es nicht ein ähnlich aussehendes Pferd sein?“

Louison stellte diese Frage nur, um sicherzugehen, aber die Reaktion des schwarzen Pferdes war Antwort genug. Zephys bemerkte die Stimme seines Herrn mit seinen scharfen Sinnen und drehte sich um, um sie anzusehen.

*Wieher!*

Im Nu biss Zephys in den Arm des Wachmanns und stieß ihn mit seinem Körper von sich. Nachdem er die beiden erwachsenen Männer umgeworfen hatte, rannte er zu Carlton.

*Wieher, wieeheeer!*

Zephys Augen waren feucht, als er seinen Kopf an den Schultern des Söldners rieb und über das Gesicht des Söldners leckte. Es war das erste Mal, dass Louison ein Pferd so traurig weinen sah. Carlton streichelte das Fell auf Zephys Kopf. Sein Gesichtsausdruck wirkte gleichzeitig bedauernd und freudig. Der junge Herzog war gerührt von diesem leidenschaftlichen Wiedersehen.

Aber das war kein Moment, um sich zu entspannen und sentimental zu werden. Die beiden Männer, die Zephys Zügel gehalten hatten, näherten sich mit Speeren in der Hand.

Ihr da! Wer seid ihr?“, riefen die Wachen laut.

Wie konnten sie Menschen aus heiterem Himmel bedrohen? Louison war unglaublich verwirrt. Warum benahmen sie sich so? Carlton trat vor den jungen Herzog und legte seine Hand auf den Griff seines Schwertes.

Wir sind Teil der Sicherheitskräfte von Confosse. Dieser Mann hier ist der Wachhauptmann. Denkt nicht einmal daran, euch zu widersetzen, sondern ergebt euch!“

Louison war nicht überrascht, dass sie tatsächlich Wachen waren, aber es war etwas ungewöhnlich, dass der Wachhauptmann in einfacher Kleidung war. Warum sollte ein so hochrangiger Mann sich an diesem Ort aufhalten?

Gebt eure Waffen ab und ergebt euch sofort!“

Aus welchem Grund bedroht ihr uns mit Waffen?“, fragte Louison.

Doch die Wachen antworteten nicht, sondern richteten ihre Speere näher auf den jungen Herzog und den Söldner. Der Wachhauptmann beobachtete sie weiterhin und hielt sich zurück.

Louisons Herz pochte heftig. Der junge Herzog versuchte, ruhig zu bleiben, und zeigte seinen Pilgerpass.

Ich bin ein Wanderer, der dem Willen Gottes folgt.“

Im Licht der aufgehenden Sonne streute das helle Silber des Pilgerpasses die Lichtstrahlen. Der Hauptmann und der Wächter waren überrascht und senkten ihre Speere.

Ah … Sie sind also ein verehrter Pilger.“

Dann ist diese Person…“

Dieser Mann ist ein Söldner, den ich als Eskorte angeheuert habe“, antwortete Louison.

Behandelt Confosse Pilger so? Hegen Sie alle einen Groll gegen die Kirche?“, Carlton ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, dies einzuwerfen und mit dem Namen der Kirche zu drohen.

Erschrocken begannen die Wachen hektisch zu erklären: „Wir haben die Kirche keineswegs verlassen! Absolut nicht! Wir hatten nicht die Absicht, uns so zu verhalten. Es ist nur so… dieses Pferd gehörte einem Verbrecher …“

Einem Verbrecher?“

Dieses Pferd gehört zu den Männern, die von dem Bastard angeführt werden, der den Herzog von Anness entführt hat.“

Also mussten Carltons Männer Zephys hierher gebracht haben! Endlich war die Frage nach Zephys Anwesenheit beantwortet. Es war ein Glück, dass er sich Carltons Männern angeschlossen und ihnen gefolgt war.

Nachdem das Pferd von Carlton getrennt worden war, hatte Louison Angst gehabt, dass es den Schattenwölfen begegnen oder in den Bergen zurückbleiben würde, wo es umherirren und um das Überleben kämpfen müsste. Was für eine Erleichterung.

Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, hätten Louison und Carlton ihre Reise fortsetzen können, indem sie sich wieder mit Zephys und Carltons Männern zusammengeschlossen hatten.

Da jedoch der Söldner für die Entführung von Louison verantwortlich gemacht wurde, waren Carltons Männer gefangengenommen und weggebracht worden.

Normalerweise wurde über die persönlichen Gegenstände der Kriminellen nach dem Willen der Wächter verfügt, die sie gefasst hatten. Deshalb befand sich Zephys im Besitz dieser Wächter.

Sie schienen mit dem Pferd des Verbrechers vertraut zu sein, also … Wir hatten keine andere Wahl, als mit Waffen heranzukommen, weil wir dachten, Sie würden mit den Entführern zusammenarbeiten. Bitte haben Sie Verständnis für uns, verehrter Pilger.“

Aber… dieser Söldner. Seid ihr sicher, dass ihr wisst, wer er ist? Ich möchte nicht an euren Worten zweifeln, verehrter Pilger, aber Carlton und seine Männer sind ebenfalls Söldner. Besteht die Möglichkeit, dass …“

Auf gar keinen Fall! Dieses Pferd hat sich tatsächlich gefreut, mich zu sehen!“

Louison zog rasch an den Zügeln von Zephys. Man musste nicht laut aussprechen, dass Carlton der Besitzer von Zephys war, denn die Freundlichkeit des Pferdes war bereits verdächtig genug – der junge Herzog wollte nicht, dass sein Begleiter verhaftet und eingesperrt wurde.

Die Wächter hatten guten Grund, ihnen zu misstrauen – schließlich sagten sie die Wahrheit –, also ersann Louison verzweifelt Ausreden.

Ich habe dieses Pferd im Kloster aufgezogen, seit es ein Fohlen war. Ich habe mich um es gekümmert. Deshalb hat es mich erkannt und ist auf mich zu gerannt. Es ist zu mir gekommen, nicht zu ihm. Zu mir – dem Pilger.“

Sobald Louison seine Lügen ausgesprochen hatte, trat Carlton von Zephys weg und tat so, als sei ihm die Situation egal. Zephys verstand nicht wirklich die ganze Situation, aber es war ein kluges Pferd. Es las den Gesichtsausdruck seines Besitzers und schmiegte sich ruhig an Louison.

Ich verstehe. Ich verstehe eure Umstände, aber das ist das Pferd eines Kriminellen. Es steht jetzt unter der Aufsicht der Wache.“

„……“ Als Louison zögerte, packte Carlton den jungen Herzog am Arm.

Warum ausgerechnet … Wachen …

Es wäre viel einfacher gewesen, wenn ein Händler oder ein anderer Söldner Zephys besessen hätte. Die Gegner, die sie vor sich hatten, konnten nicht durch Einschüchterung oder Gewalt bezwungen werden. Wenn sie die Wachen angriffen, würde der Besitzer von Confosse – und darüber hinaus der Herr dieses Gebiets – nicht tatenlos zusehen.

Überlasse es ihnen“, flüsterte Carlton. Louison blieb nichts anderes übrig, als die Zügel loszulassen.


Info

Carl ist zwar die Abkürzung für Carlton, aber auch ein Homonym für „Schwert“.






2 Kommentare:

  1. Da finden sie durch Zufall Carlton sein Pferd wieder, das sich ebenfalls freut ihn wieder zu sehen und dann müssen sie aufpassen, das man ihre Identität nicht rausfindet. So einfach können sie das Pferd nicht mitnehmen. Dem Esel ist das alles egal. Hauptsache Gras fressen XD

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  2. das ist jetzt traurig. jetzt endlich hat er sein pferd gefunden was in auch gleich begrüsst doch sie können in nicht mit nehmen weil die wachen wissen das es einem söldner gehört den sie suchen. das ist schade jetzt müssen sie es zurück lassen. das pferd ist sehr klug spielt sogar mit und bleibt bei luis obwoll es lieber zu seinem herrchen möchte. das andere tier naja das frisst statt neugierig zu sein. die trennung wird schmerzlich sein.

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