Seit wann?
Im Bruchteil einer Sekunde gingen Ruger die zahllosen Tage durch den Kopf, die er mit Louison verbracht hatte.
Er konnte sich nicht erinnern, wann es begann. Spion. Er erinnerte sich deutlich daran, wie beschämt er sich fühlte, als er eine Position außerhalb des Ritterstandes annahm. Er wollte nur Gutes tun und die Anerkennung seines Vaters bekommen.
Um mehr Informationen zu bekommen, schmeichelte er sich bei Louison ein und spielte den treuen Adjutanten des jungen Lords. Louison zweifelte nie an Ruger – der junge Lord glaubte ihm und verließ sich auf ihn. In Louisons Augen gab es weder Zweifel noch Hintergedanken.
Aus diesem Grund wurde Ruger immer aufrichtiger. Es gab niemanden in seinem Leben, der so fest an ihn glaubte. Niemand sonst hatte seine Hingabe anerkannt. Louison erfüllte Ruger seinen Lebenswunsch und seine Liebe wurde von Tag zu Tag tiefer, bis sie wirklich etwas Besonderes wurde.
Doch Ruger war immer noch ein Spion. Er konnte sich den Befehlen seines Vaters nicht widersetzen, der ihn einst an Louisons Seite platziert hatte. Er isolierte den jungen Herzog von seinen Gefolgsleuten und führte ihn weiter in die Verderbtheit. Jeder Moment, den er mit Louison verbrachte, war von Verrat und Lüge befleckt. Selbst wenn Louison von seiner Liebe erfahren hätte, selbst wenn Ruger sich seine eigenen Gefühle eingestanden hätte, hätte dies nur Schmerz für sie beide bedeutet.
Also rannte Ruger immer weiter vor seinen Gefühlen davon. Seine Täuschung wurde zweiseitig – er täuschte sich selbst genauso sehr wie sein Opfer. Daher arbeitete Ruger hart daran, die Befehle seines Meisters zu erfüllen. Er fühlte sich in seiner Position sicherer. Er konnte sich jedoch nicht so weit selbst täuschen, dass er Louison mit seinen eigenen Händen töten konnte.
Ruger war in Louison verliebt.
Es war jedoch eine verdrehte Liebe, die den anderen nur unglücklich machen und ihn weiterhin egoistisch an Ruger binden würde. Trotzdem brachte es der ehemalige Adjutant nicht übers Herz, Louison aus Liebe zu töten.
Lasst ihn am Leben. Ich werde ihn retten und fortschicken.
Ruger fasste einen Entschluss. Obwohl es sich wie eine Ewigkeit anfühlte, war es in Wirklichkeit nur ein Augenblick. Niemand hatte Rugers Pause bemerkt, und niemand bemerkte die langjährige Liebe, die den Mann beeinflusst hatte.
Nur Louison bemerkte Rugers Zögern, aber es fiel ihm schwer, das Verhalten des anderen zu deuten, als eine riesige Klinge auf seinen Hals zuflog. Stattdessen erkannte er nur eines: eine winzige Möglichkeit zu überleben.
Louison erinnerte sich an die Selbstverteidigungstechniken, die Carlton ihm beigebracht hatte. Er nahm den vorbereiteten Topf mit Erde und warf sie Ruger ins Gesicht.
Dann trat er gnadenlos auf Ruger ein, bevor er fast zusammenbrach und wegrollte, wodurch die Distanz zwischen ihnen größer wurde.
Offen gesagt konnte der junge Herzog dadurch nur wenig Zeit gewinnen. Wäre Louison allein gewesen, wäre er bald wieder gefasst worden.
Louison hatte jedoch Carlton. Sobald Louison Rugers Klinge entwischte, zog Carlton ohne zu zögern sein eigenes Schwert über Rugers Hals.
Die Bewegungen des Söldners waren schnell und geschickt. Ruger bemerkte nicht einmal, dass er starb. Seine Lippen formten etwas, aber es kam kein Laut heraus.
Ruger starb und blickte Louison bis zum letzten Moment an. Trotz der Grausamkeit des Anblicks wandte Louison seinen Blick nicht ab. Er sah zu, wie Ruger starb und zusammenbrach, während er sich an die Jahre erinnerte, die sie miteinander verbracht hatten.
Jemand, dem er einst vertraut hatte, jemand, der ihn in Schuld und Verrat gestürzt hatte. Dennoch beunruhigte ihn Rugers Tod zutiefst. Zum zweiten Mal hatte Louison seinen ehemaligen Adjutanten sterben sehen. Doch weder in diesem noch im früheren Leben hatte er Rugers Verhalten je wirklich verstanden.
„Geht es dir gut?“ Carlton eilte herbei und half dem gestürzten jungen Herzog auf. Erst dann wandte Louison seinen Blick von Ruger ab und fühlte sich in Carltons Armen sicher.
Er verließ sich auf den Söldner und klammerte sich beinahe an ihn. „Es ist jetzt fast vorbei.“
Ruger war tot und alle Monster waren gefallen. Der zwölfte Anbeter war vollständig bewusstlos. Auch wenn der neunte noch stand, kämpfte er sichtlich mit seinen Kräften. Morrison konnte sich allein um ihn kümmern.
Doch der neunte Anbeter wirkte unerklärlich zuversichtlich. „Ahahahahahaha!“
Er brach in Gelächter aus und schrie in einer unbekannten Sprache in die Luft. Es schien, als würde er einen Zauberspruch ausrufen, aber seine Schreie waren voller Hunger und Sehnsucht. Niemand verstand, was er sagte, aber der Klang ließ bei seinen Zuhörern Gänsehaut aufkommen.
Den Zweck dieser Worte verstanden sie jedoch bald.
Eine schwarze Rauchschwade stieg aus Rugers Hals empor und breitete sich in alle Richtungen aus. Als sie Rugers Körper berührte, wurde seine Haut schwarz, als wäre sie mit dunkler Farbe durchtränkt.
Eine unbeschreiblich unheilvolle Vorahnung befiel Louison.
Kurz darauf, als Rugers Körper vollständig schwarz gefärbt war, erhob er sich erneut. Schwarzer Rauch stieg dort auf, wo einst sein Kopf war, und sein Körper behielt die dunkle Färbung.
Das Ding, das einst Ruger war, nahm einen Ritterhelm, der auf den Boden gefallen war, und setzte ihn sich auf. Es sah aus, als trüge es einen Helm auf seinem jetzt rauchigen Kopf. Es drehte sich um und sah Louison an.
Das Innere des Helms war ein endloses, pechschwarzes Nichts – ein Abgrund. Als würde der junge Herzog in einen tiefen Brunnen blicken.
Er ist es…
Louison kannte diese Gestalt nur zu gut.
Der Todesritter.
Einst, in ferner Vergangenheit, hatte Louison gedacht, dieser verfluchte Ritter sei aus den auf ihm lastenden Groll hervorgegangen. Damals hatte er sich gar vorgestellt, dass dieser Ritter Carlton sein könnte.
Als der junge Herzog jedoch den einarmigen Pilger traf und Erleuchtung erlangt hatte, erkannte er, dass der Ritter eine Täuschung war, die durch seine immense Schuld und Angst erschaffen worden war. Von da an verschwand der schwarze Ritter, der ihm drei Jahre lang auf den Fersen gewesen war, plötzlich.
Dies alles seien reine Fantasien von Louison gewesen und den Ritter dürfte es in Wirklichkeit gar nicht geben.
Doch dieser Ritter – ausgerechnet aus Rugers Körper geboren – erschien Louison noch einmal.
Un-unglaublich… W-warum erscheint er plötzlich wieder vor mir? Ist Ruger damals doch nicht gestorben? Hat er seinen Tod nur vorgetäuscht?
Louisons Herz klopfte wie verrückt und sein Atem ging in schnelles Keuchen über. Die Hände des jungen Herzogs zitterten so stark, dass Carlton es bemerkte. Louison fühlte sich in seine schmerzvollen Tage als Bettler zurückversetzt. Die Angst, die er mit der Hilfe des einarmigen Pilgers überwunden zu haben glaubte, kehrte zurück und überwältigte ihn.
Der tote Ruger war wiederbelebt und zum Todesritter geworden – der dunklen Vision, die ihn ständig verfolgt hatte …
An diesem Punkt konnte Louison nicht anders, als an seinem Verstand zu zweifeln. „S-sehe ich … die Dinge gerade wirklich?“
Funktionierten seine Augen … sein Gehirn … richtig? War er wie früher in Wahnvorstellungen verfallen? Louison hatte die Zeit zurückgedreht … Er hatte geglaubt, alles zu beheben, aber …
Hatte er dann vielleicht geträumt, dass er in die Vergangenheit zurückgekehrt war …?
Carltons Stimme bewahrte Louison davor, in völlige Panik zu verfallen: „Du bist bei Verstand. Ich weiß, das Geschehen vor dir ist ein bisschen verrückt, aber … es ist alles real.“
„Siehst du ihn auch?“
„Ja.“
Louison lehnte sich an den Söldner und stieß einen langen Seufzer aus.
Carlton stützte den Körper des jungen Herzogs, klopfte ihm beruhigend auf den Rücken und legte einen Arm um seine Schultern. Diese kleine Geste gab Louison viel von seiner geistigen Stabilität zurück.
In der Zwischenzeit nahm der Todesritter ein Schwert. Als der Ritter das Schwert berührte, änderte es sich wie erwartet von Silber zu Schwarz. Das todesähnliche Wesen war definitiv nicht von dieser Welt.
„Hahaha! Ich wusste es! Ich sagte, er hat Potenzial! Ich bin froh, dass ich ihn im Vorfeld hier und da angetrieben habe! Ich dachte, 'er' sollte einen oder zwei Ritter haben!“ Der neunte Anbeter lachte fröhlich. Eines seiner langfristigen Projekte war die Herbeiführung der Geburt eines Todesritters.
Es gab eine Geschichte über einen verfluchten Ritter. Der Ritter war verflucht und enthauptet worden, weil er seinen Herrn verraten hatte, und verbrachte sein gesamtes Leben nach dem Tod damit, nach seinem Kopf zu suchen. Er wurde oft Todesritter genannt, weil er alle ermordete, die ihn und seine Schande sahen.
Einst ein Ritter, ehrenhafter als alle anderen, und jetzt ein verfluchtes Wesen.
Die meisten Leute hielten den Mythos für eine Erfindung, doch der neunte Anbeter fand nach langen Nachforschungen heraus, dass der Todesritter ein ghulartiges Monster war.
Er wollte auch ein Wesen wie einen Todesritter erschaffen, aber es war schwer, jemanden zu finden, der diesen Anforderungen entsprach. Loyalität, Verrat und Tod waren alles notwendige Zutaten für die Geburt eines Todesritters.
Als er Ruger zum ersten Mal begegnete, riss er die Augen auf. Obwohl Ruger seinem Meister treu ergeben war, wie es sich für einen richtigen Ritter gehörte, hatte der ehemalige Adjutant Louison immer im Sinn. Der neunte Anbeter glaubte, dass Ruger seinen Meister eines Tages wegen Louison verraten würde. In diesem Moment konnte der Mann zum Todesritter ernannt werden.
Heute hatte der neunte Anbeter das Gefühl, dass seine Pläne an der Zeit waren, und befahl Ruger, den jungen Herzog zu töten. Natürlich rechnete er damit, dass Ruger nicht in der Lage sein würde, den tödlichen Schlag auszuführen. Es war in Ordnung, wenn Ruger tatsächlich tötete, aber es war besser, wenn Ruger diesen Befehl verriet.
Wie erwartet verriet Ruger seinen Meister in letzter Sekunde und beschloss, Louison zu retten. Carlton tötete Ruger daraufhin … und die genauen Bedingungen waren erfüllt worden.
Ein perfekter Tod.
Der neunte Anbeter ließ Ruger wieder auferstehen und verwandelte ihn in einen Todesritter. Obwohl der Todesritter noch einige Erinnerungen und Emotionen aus seinem Leben hatte, war er dennoch ein Monster, sodass der neunte Anbeter ihn vollständig kontrollieren konnte. Darüber hinaus war der Todesritter um ein Vielfaches stärker als Ruger zu Lebzeiten.
„Los! Los und töte sie alle! Als Erstes musst du diesen Eiferer abschlachten!“, rief der neunte Anbeter mit fröhlicher Stimme.
Der Todesritter wandte sich von Louison und Carlton ab und stürzte sich auf Morrison. Morrison blockte mit einem Harnischhandschuh die schwarze Klinge ab.
Der Körper des Inquisitors bebte heftig.
Was in aller Welt ist dieser Kerl?, dachte er.
Die Kraft des Monsters war klar, aber die böse Energie, die von dem Monster ausging, war so intensiv, dass Morrison sie nicht ertragen konnte. Im Gegenzug waren Morrisons Kräfte geschwächt und seine Flammen hatten stark nachgelassen.
Nngh, wir müssen die Frontlinie halten …
Der Todesritter schlug unbeirrt erneut mit seinem Schwert zu. Diesmal blockte Carlton den Schlag mit einem geworfenen Dolch, sodass Morrison dem Angriff knapp ausweichen konnte.
Doch der Inquisitor konnte seine Falle nicht aufrechtzuerhalten – die blauen Flammen, die die Dämonenanbeter eingeschlossen hielten, verschwanden.
„Gut! Genug! Und jetzt kehre zurück!“ Der neunte Anbeter rief den Todesritter herbei. Er stieg schnell auf den Rücken des Monsters und deutete auf das Fenster.
Wäre dies Ruger gewesen, hätte er solch eine unwürdige Handlung an seinem Körper nicht hingenommen, doch der Todesritter lief schweigend zum Fenster und trug den Anbeter auf seinem Rücken.
Er öffnete das große Fenster und ein starker Wind wehte hinein. Genau als der Wind den Rauch und den Nebel vertrieb, verschwanden der Todesritter und der Anbeter.
Morrison folgte ihnen schnell, aber sie waren nirgends zu finden. „Haah… Sie sind entkommen. Aber draußen… ich glaube, die Lage hat sich stabilisiert.“
Als der Dämonenanbeter das Anwesen verlassen hatte, verloren die Ghule ihre gesamte Kampfkraft und kehrten in ihren ursprünglichen langsamen und harmlosen Zustand zurück. Wie Louison geraten hatte, verpassten die Truppen des Großen Lords des Ostens, die sich auf die Verteidigung konzentrierten, die Wende nicht und drängten die Monster zurück.
Und als ob sie das Ende der Schlacht verkünden wolle, schwand die Nacht, und der Morgen brach am Horizont an, der die Welt von Weiten erhellte.
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